Schanzenkrawalle: Deeskalation versus Schutz der Bürger?

Am letzten Wochenende gab es wieder die jährlichen Maikrawalle. Ich habe wie viele andere keine Lust mehr, dabei zuzusehen, wie das Viertel zum Abenteuerspielplatz von Idioten verkommt. Daher habe ich an meine Parteifreunde in der GAL mal eine Mail im interen GAL-Forum geschrieben. Er ist sehr emotional geschrieben. Ich will natürlich auch nicht Zustände wie bei einem G8-Treffen, aber man muss schon auch mal überlegen, was Deeskalation für die betroffenen Bürger bedeutet. Die Mail habe ich hier für eine Diskussion auch außerhalb der GAL einmal dokumentiert. Ich freue mich über praktikable Vorschläge, dem Problem zu begegnen.

Liebe Leute,

ich habe es wie viele andere (siehe Presseberichterstattung) in der Schanze satt, dass sich unser Stadtteil zum alljährlichen Spielfeld von gewaltbereiten Hohlköpfen entwickelt hat. Ich war eigentlich immer ein Vertreter von Deeskalationsstrategien, aber wenn das dazu führt, dass wie am Samstag dutzende Scheiben eingeworfen werden und Autos von Anwohnern zerstört werden, auf der Straße offene Brände in einem von Altbauten geprägtem Viertel gelegt werden, ohne dass man auch nur einen Polizisten sieht, dann komme ich zu dem Schluss, dass das vielleicht doch nicht so eine gute Strategie ist.

Man kann es nicht länger hinnehmen, dass uns hier die Infrastruktur von Sparkasse bis zur Drogerie kaputtgeschlagen wird, kleine Einzelhändler morgens vor kaputten Scheiben stehen und Anwohner ihr Fahhrad auf einer abgebrannten Barrikade wiederfinden. Diesmal fand ich es zudem persönlich sehr bedrohlich. Der Mob tobte zeitweise bei uns in der Bernstorffstraße, um sich an einer Baustelle mit Steinen zu versorgen. Ich bin eine Stunde am Fenster stehen geblieben, weil diese zum Teil angetrunkenen Idioten mit ihren Pflastersteinen direkt vor unserem Kinderzimmer (im Erdgeschoss) auf und ab gingen. In dieser bedrohlichen Situation – nebenan wurden Barrikaden errichtet und alles, was nicht niet- und nagelfest war, auf die Straße geworfen – habe ich die ganze Stunde lang keinen Polizisten gesehen. Übrigens ist es ein von Linken gern vorgetragener Mythos, dass das nur Pinnerger Krawallkiddies sind. Mindestens 50% der gesichteten Steinewerfen hatten die szeneübliche schwarze Autonomentracht an und viele auch politische Badges wie schwarz-rote Sterne etc.

Es mag ja sein, dass Deeskalationsstrategien gut für die Berichterstattung in der Presse sind, ob sie auch gut für die betroffenen Bürger ist, möchte ich hiermit öffentlich anzweifeln.

Beste Grüße

Lars Brücher, KV Altona

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Politcamp im Rückblick – erste Gedanken

Immer schlecht, wenn man nach einem mitorganisierten Event kaum Zeit für einen Rückblick hat. Aber ich will es wenigstens in Stichpunkten versuchen, positiv, neutral und negativ gemischt, ohne Wertung in der Reihenfolge (naja fast):

  • Wie auch das letzte Mal das größte Highlight waren die Diskussionen zwischen den Teilnehmern über Parteigrenzen hinweg. Wie immer auf solchen Veranstaltungen fanden die fruchtbarsten Gespräche in den kleinen Sessions oder im Foyer statt und nicht in den Podiumsdiskussionen im Saal. Das ist aber ein No-brainer (muss man angesichts einiger Kommentare zum Camp aber wohl doch nochmal betonen).
  • Ich finde es angesichts der doch sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten im Orga-Team immer wieder toll, wie gut die Zusammenarbeit auf dieser organisatorischen Ebene klappt. Ich habe sicherlich nicht die allergrößten politischen Schnittmengen zu Ralf Makolla von der CDU und auch Menschen aus dem Umfeld von Johannes Kahrs würde ich immer erst einmal mit Vorsicht genießen (hallo Valentin ;-)), aber diese Themen konnten wir für die überparteiliche Sache sehr gut ausblenden und irgendwie klappt es menschlich dann ja doch manchmal erstaunlich gut auch über die Parteigrenze hinweg
  • Ich mache eine Sessionplanung nie wieder mit Google Docs, das System-Feedback pro Eintrag von fünf Sekunden war angesichts der Zuteilung der knapp 40 Sessions innerhalb von 20 Minuten am Samstag etwas zu lang.
  • Ich hätte gern das nächste Mal wieder eine Mixxt-Community
  • Ich habe mich im Vorfeld darüber gewundert, dass einige in Frage gestellt haben, ob das ein „echtes“ Barcamp sei. Ehrlich gesagt war ich noch nie ein Freund von Dogmatik (womit manche auch in meiner Partei Probleme haben). Wichtig ist, dass ein Camp offen für eigene Sessions ist. Wir hatten insgesamt glaube ich rund 50 freie Sessions bei ca. 10 vororganisierten. Ich fand es gut, dass einiges vororganisiert war, schließlich erhöht es den Reiz für viele Teilnehmer, wenn man auch mal ein paar Promis sieht. Wer diese nicht sehen wollte, konnte immer in mindestens drei Alternativsessions gehen. Komischerweise war gerade bei der promigsten Podiumsdiskussion der Saal berstend voll. Die Qualität der großen Sessions war aber zugegebenermaßen recht unterschiedlich.
  • Ich finde gut, dass unsere parteisystemkritischen Bohemians wie @mspro oder @plomlompom wieder dabei waren und sich auf den Dialog mit uns Parteifuzzies eingelassen haben – immer ein Gewinn. @plomlompom’s Session zu „Datenschutz als Ideologie“ war wie zu erwarten eine der besten Sessions.
  • Überhaupt war ich von der Menge und Breite der Sessionbeiträge geradezu überwältigt: Ihr seid toll!
  • Ich hätte gern die Zeit gehabt, selbst eine Session vorzubereiten und anzubieten
  • Das nächste Mal sollten wir wieder im Frühsommer campen
  • Man sollte beim Grillen nicht immer erst eine Wurst auf den Grill legen, wenn sie bestellt wird.
  • Die Getränke waren zu teuer, aber das ist einfach eine Sache des Sponsorings. Freiwillige vor.
  • Das Essen war so mittelprächtig, aber einem geschenkten Gaul…
  • Noch mehr Streams und noch mehr Dokumentation wären toll. Liegt zum Teil am Sponsoring, kann das Team auch mehr Schwerpunkte setzen, müssen aber auch die Teilnehmer zu beitragen.
  • Die Twitterwall fand ich gar nicht so schlimm, da hatte ich nach den infantilen Tweets auf der letzten re:publica größere Sorgen. Das Twitterfeedback fand ich sowohl bei positiven wie negativen Dingen hilfreich.
  • Vom Politcamp geht keine Weltrevolution aus. Die netzpolitischen Themen müssen natürlich weiteren Raum in der Gesellschaft greifen, wie Nico es fordert. Aber ich finde es auch hilfreich, wenn man sich in der netzpolitischen Gemeinde, die angeblich so im eigenen Saft schmort, überhaupt mal bei einigen Punkten einig ist, bevor man die Welt missioniert. Da ist ja seit dem letzten Politcamp viel passiert (Netzsperren). Und ganz davon abgesehen gibt es auf dem Politcamp wesentlich weniger Netznerds als bei den meisten anderen 2.0-igen Veranstaltungen. Insofern ist das Politcamp ein richtiger Schritt auch in diesem Sinne. Noch offener werden: Gerne.

Ach so: Besser werden kann man natürlich immer. Mithelfen kann auch jeder.

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Idee des Grünencamp revisited: Treffen auf dem Politcamp?

Ich hatte ja vor mittlerweile fünf Monaten an dieser Stelle schon einmal die Idee eines Grünencamp entwickelt. Damals gab es viel Feedback und ich habe eine Mixxt-Community dafür gegründet. Aufgrund vieler anderer Projekte und auch angesichts des bevorstehenden Politcamp, bei dem ich ein bisschen mitorganisiere, kam das Thema zwischenzeitlich etwas unter die Räder – sorry. Die Idee ist aber nach wie vor aktuell! Deshalb möchte ich allen Interessieren anbieten, das Thema in einer Session auf dem Politcamp (am 20. und 21. März in Berlin) wiederzubeleben. Würde mich freuen, wenn viele Interessierte am Grünencamp auch dorthin kommen, damit wir die Idee des Grünencamps dort weiterentwickeln können. Ideen und Kommentare im Vorfeld – hier oder bei Mixxt – natürlich erwünscht.

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Klarer Ausgang des Bürgerentscheides zu IKEA – jetzt vernünftig planen

Die Bürger haben entschieden: Die überwältigende Mehrheit von 77,2% der Altonaer wollen, dass IKEA kommt. Das ist noch besser, als ich es habe kommen sehen. Und zugleich macht es klar, dass ein zweiter Bürgerentscheid zu diesem Thema nicht nur keinem Bürger klarzumachen ist sondern auch eine eklatante Verschwendung von Haushaltsmitteln bedeuten würde. Man kann also entweder hoffen, dass die Unterschriften des Gegenbegehrens nicht reichen (unwahrscheinlich) oder der Senat angesichts der rechtlichen Lage das Verfahren an sich zieht (Evokation, wahrscheinlicher). Dann muss aber auch ernst gemacht werden mit der durchdachten verkehrstechnischen Planung, denn das scheint mir das noch plausibleste Argument zu sein (wenngleich auch Karstadt früher Verkehr verursacht hat und im Gegenzug auch weniger Autokolonnen am Wochenende quer durch die Stadt nach Schnelsen oder Moorfleet mehr fahren müssen). Städtebaulich wäre eine grüne Wiese wahrscheinlich schöner als ein IKEA, aber unansehnlicher als das Frappant wird ein IKEA-Neubau sicherlich nicht – und ich bin ansonsten im Gegensatz zu vielen Anderen ein großer Freund des 60er-Jahre-Ensembles nebenan in der Neuen Großen Bergstraße.

Ich würde mich ernsthaft freuen, wenn die IKEA-Gegner jetzt mit einsteigen in diesen Prozess, um das Beste daraus zu machen, anstatt sich als schlechte Verlierer zu zeigen, die den Bürgern vorwerfen, schlecht informiert gewesen zu sein (obwohl sie doch selbst 60.000 Zettel verteilt haben). Natürlich muss man den jetzt im Frappant befindlichen Freelancern und Künstlern auch helfen, Räume zu finden. Bitte sucht dann für mich gleich mit, ich bin auch Freelancer, der aus seinem Büro raus muss und unterscheide mich in Gewinnorientierung und Zugehörigkeit zur Kreativwirtschaft kein bisschen von einem Großteil der Frappant-Nutzer.

Als letzten Wunsch hätte ich noch, dass alle Parteien sich einmal mit dem Justizsenator zusammensetzen und über die Regelungen zur direkten Demokratie reden. Die scheinen, wie der aktuelle Fall zeigt, noch etwas unausgereift. Ich finde gut, wenn solch wichtige Maßnahmen von Bürgern selbst entschieden werden, aber die Instrumentalisierung der Bürgerbeteiligung zu taktischen Zwecken (Verhinderung von Maßnahmen durch die Suspensivwirkung, nicht durch die eigentliche Abstimmung) und die Möglichkeit von zwei Abstimmungen zum gleichen Thema innerhalb kürzester Zeit müssen der Vergangenheit angehören.

Update: altonaINFO hat ein Video der Pressekonferenz zum Ergebnis hochgeladen, danke!

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Bürgerentscheid pro IKEA – jetzt geht es los

Lange wurde diskutiert, jetzt hat der Bürger das Wort: Der Bürgerentscheid pro IKEA startet und wird darüber Auskunft geben, wie die Altonaer Bevölkerung über das geplante Vorhaben denkt, anstelle des Frappant-Gebäudes, in dem früher Karstadt untergebracht war, eine innerstädtische IKEA-Filiale zu errichten.

Erwähnenswert an diesem Bürgerentscheid ist, dass er erstmals ein positives Petitum hat. Der Bürgerentscheid hat explizit das Ziel, IKEA anzusiedeln. Er wurde im Wesentlichen von den Kaufleuten in der Großen Bergstraße organisiert, die sich davon eine Belebung der Straße erhoffen. Nicht, dass es an öffentlichkeitswirksam agierenden Kritikern fehlen würde. Aber entweder konnten oder wollten die Gegner die für ein eigenen Bürgerentscheid notwendigen Unterschriften noch nicht beim Bezirksamt abgeben. Es ist in der Tat bedauerlich – wer auch immer daran Schuld ist – dass die beiden Bürgerbegehren nicht gegeneinander abgestimmt werden können. Wenn jetzt aber ein Bürgerentscheid durchgeführt wird, hat glaube ich niemand Verständnis dafür, wenige Monate später noch eines mit einem negativen Petitum abzustimmen. Man kann hoffen, dass die Gegner das Ergebnis dann respektieren – vielleicht fällt es ja auch zu ihren Gunsten aus. Aber die große Öffentlichkeitsarbeit, die die Gegner gerade fahren, würde ich mal als Beleg dafür werten, dass man den ersten Entscheid auch ernst nimmt. Durchaus lobenswert auch, dass IKEA selbst vom Bürgerentscheid seine Entscheidung abhängig macht, also nicht versuchen wird, über andere Wege ans Ziel zu kommen.

Zur Sache selbst hatte ich mich ja schon an dieser Stelle geäußert. Ich finde viele Sachen im jetzigen Kultur-Frappant super, aber es war von vornherein klar, dass es angesichts des Privatbesitzes nur eine Zwischennutzung sein kann. Ich muss auch kein IKEA haben, aber schlecht fände ich es auch nicht, nicht immer mit dem Auto nach Schnelsen rausfahren zu müssen, sondern per Bus in 10 Minuten da zu sein. Ich glaube zudem schlicht nicht an die Argumentation, dass ein Billigmöbelkaufhaus ein Gentrifizierungsfaktor ist. Vielmehr ist das Gegenteil vermutlich der Fall: Ein alternatives Kulturzentrum mit dem Ruch des Illegalen und Kreativen (Besetzung! Protest! „Künstler“!) hat viel mehr Potential, den Stadtteil für Medien- und Werbeagenturen und  die nachfolgende Eppendorfer Schickeria attraktiv zu machen. Das beste Beispiel dafür ist der Gentrifizierungseffekt der Roten Flora in der Schanze. Wenn die sogenannten Künstler (de facto sind dabei auch viele ganz gewöhnlich Gewerbetreibende wie Architekten und Grafiker, die sich über wettbewerbsverzerrend günstigen Büroraum freuen) aus dem Frappant gegen Gentrifizierung wären, müssten sie eigentlich also eigentlich sich selbst bekämpfen.

Im Übrigen würde ein ablehnendes Ergebnis des Bürgerentscheides nicht den Fortbestand des Frappants als Kulturinstitution bedeuten. Im Gegensatz zum Gängeviertel und vergleichbaren Objekten befindet sich das Gebäude schon lange in Privatbesitz, der Besitzer wird also versuchen, ein anderes Konzept zu finden, um sein Gebäude zu versilbern. Er kann, dass kann man gar nicht oft genug sagen, auch jetzt schon ohne jede Genehmigung ein Kaufhaus im bestehenden Gebäude errichten. Verhindern lässt sich nur ein Neubau (wie er für IKEA aber notwendig wäre).

Viel ernster nehme ich die Argumente aus städtebaulicher Sicht und die Verkehrsproblematik. Da kann ich nur auf die vollkommen richtigen Vorraussetzungen für eine Ansiedlung von IKEA verweisen, die die GAL-Fraktion (der ich als zugewählter Bürger angehöre) verabschiedet hat. Da die GAL das weitere Verfahren nach einem eventuellen positiven Bescheid maßgeblich mitbestimmt, werde ich beim Bürgerentscheid mit JA stimmen.

[Update: Wurde zurecht darauf hingewiesen, dass ich Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ab und zu (z.B. in der Überschrift) durcheinandergeworfen habe. Ist jetzt hoffentlich überall richtig]

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Not in our name: Selbsterkenntnis täte gut.

Zur Zeit immer unterwegs und überall zu spät. Dennoch ein paar Zeilen zu „Not In Our Name, Marke Hamburg“ (warum ist das eigentlich nicht kommentierbar?). Ich bin ja etwas hin- und hergerissen: Zum Teil in seinem Sarkasmus glänzend, zum Teil das übliche Jammern auf hohem Niveau. Zum Teil richtige Kritik (an Verkauf städtischer Immobilien im Höchstpreisverfahren), z.T. schon widerlegte Unwahrheiten (dass die Kulturförderung gekürzt worden sei). Zum Teil richtige Initiativen unterstützend (Gängeviertel), zum Teil Initiativen unterstützend, bei denen man sich entweder vergallopiert hat (was hat ein Billigkaufhaus mit Gentrifizierung zu tun? – siehe auch einen älteren Post von mir zu IKEA in Altona) oder die noch weniger mit dem Thema zu tun haben (Fernwärmleitung und Autobahndeckel, das ist eher der heilige St. Florian herauszuhören). Und mir ist auch nicht ganz klar, warum mein Parteifreund Farid Müller zu Verbalkeulen gegen das Manifest greift, aber genauso wenig, warum meine Fraktion bei jeder aus der Reihe tanzenden Meinung einen Maulkorb verhängen muss. Aber letzteres nur am Rande.

Zumal das von Müller offensichtlich verwendete Wort „scheinheilig“ zwar polemisch, aber auch nicht unbedingt falsch ist. Denn letztlich macht sich die Stadt sich ja nur einen Gentrifizierungseffekt zunutze, den die Künstler, Bar- und Clubbetreiber seit Jahrzehnten selbst verursachen. Die Türken in der Schanze wurden nicht von der bösen Politik aus der Schanze vertrieben, sondern von linken WGs, die mit ihren gesplitteten Mieten mehr pro Quadratmeter bezahlen konnten. Die Yuppies wurden nicht mit Fördermitteln in die Schanze gezwungen, sondern fühlten sich von der subkulturellen Atmosphäre von Roter Flora, Saal 2, Bioladen und Co angezogen. Nur mal so als Beispiel. Das ist alles ohne staatlichen Einfluss passiert. Und das weiß der klügere Teil der Szene auch, wie ein sehr weiser Artikel in der Zeck (dem Zentralorgan der Roten Flora) zur Gentrifizierung der Schanze vor ein paar Jahren sehr schlüssig belegte.

Und auch scheinheilig ist, dass ein großer Teil derjenigen, die das kritisieren, daran ja auch Geld verdienen – vor allem, wenn man die Clubs und Bars dazuzählt, was die Manifestautoren ja tun. Und dass die Stadt mit der zugegebenermaßen sehr anbiedernden Werbung in den Hochglanzbroschüren dummerweise Leute nach Hamburg holt, die Konzerte in den genannten Clubs bei den genannten Künstlern besuchen, deren Bilder kaufen oder Bücher lesen. Publikumsbeschimpfung also gewissermaßen.

Und da frage ich einfach mal direkt in der zweiten Person: Was soll dieser Distinktionsscheiß? Und was wollt ihr? Wollt ihr von Kultursubventionen korrumpiert bis zur Rente in staatlichen Kulturzentren dahinvegitieren? Ich könnte mir nichts Uninspirierenderes und Spießigeres vorstellen. Natürlich kann man billige Flächen oft nur durch Zwischennutzung bereitstellen. Da ihr die aber dann oft nicht mehr verlassen wollt, wenn die Zeit abgelaufen ist, wird es auch die bald nicht mehr geben, weil sich kein Immobilienbesitzer mehr auf dieses Wagnis einlassen wird. Das wäre in der Tat ein trauriges Ergebnis eurer Sesshaftigkeit. Und ich sehe es ehrlich gesagt auch nicht ein, dass so ein Zustand womöglich mit meinen Steuergeldern künstlich verlängert wird. Schließlich seid ihr keine unterdrückten Minderheiten, sondern verdient euren Lebensunterhalt damit, seid Freiberufler (man sollte sich mal im Frappant umschauen, was für „Künstler“ zu fast schon wettbewerbsverzerrenden Mietpreisen da (noch) ihre Büros haben) oder verdient in Clubs euren Lebensunterhalt mit hohem Bierumsatz (und bezahlt wahrscheinlich eure Tresenkräfte schlecht).

Nix für ungut, ich find euch ja auch toll, aber bitte seid ehrlicher zu euch selbst. (OK, ist doch etwas länger geworden)

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Auf Stippvisite zur Positionsbestimmung: Der Grüne Parteitag in Rostock

Vor einigen Wochen noch drohte der Parteitag in Rostock sehr langweilig zu werden. Die Grünen waren in der Opposition, wieder an 5. Stelle, aber etwas gestärkt. Also kein Koalitionsvertrag, aber auch kein Grund für lautes Wehklagen – konnte man meinen.

Es stellte sich aber mit der Zeit heraus, dass offensichtlich viele – und hier vor allem viele im Reformer/Realoflügel sich von dem, was sie da von der amtierenden Führungsspitze in Partei und Fraktion am Wahlabend und den Tagen danach zu hören bekamen, nicht ganz repräsentiert fühlten. So kam es nach und nach zu mehreren Anträgen zum Punkt „Grüne Opposition“, von denen mir der „Lager-Antrag“ am meisten am Herzen lag und an dem ich in bescheidenem Umfang mitgearbeitet hatte, drückte er doch am deutlichsten aus, dass die Partei sich über Lager hinweg Perspektiven für eine Regierungsbeteiligung erarbeiten muss. Dieser Antrag wurde schon formuliert, als noch niemand wusste, wohin die Reise im Saarland hinging, insofern war das Labeling „Jamaika-Anträge“ bei diesem und den anderen Anträgen natürlich die übliche linke Propaganda.

Aber in letzter Konsequenz war das natürlich ein wesentlicher Unterschied zur bisherigen Positionierung. Unser Antrag sorgte auch für einen guttuenden Wirbel im Vorfeld der BDK. Ein Antrag des Bundesvorstands wurde vorgelegt, der ohne unseren Vorstoß samt seinen vielen Unterstützerinnen nie so differenziert geworden wäre. Weitere, wirklich gute Anträge, zum Teil sogar lagerübergreifend wie der von Al-Wazir/Bell stärkten diese Position der Eigenständigkeit noch mehr. Und Renate Künast, die Tage zuvor in der Leipziger Volkszeitung noch ein „klares Bekenntnis gegen Jamaika“ von der BDK gefordert hatte, hatte auch eine steile Lernkurve, denn auf einmal suchte auch sie den Weg in die Mitte.

Warum ich die Vorgeschichte so ausschweifend erzähle? Weil sie den wesentlichen Teil der BDK ausmachte. Wichtige Positionsänderungen wurden entweder durch schon vorweggenommene modifizierte Übernahmen oder im Falle Künast oder erst Recht der Entscheidung im Saarland faktisch erreicht. Die noch notwendigen Erweiterungen wurden im Wesentlichen im Antragstellertreffen in den Antrag des Bundesvorstandes übernommen. Die übriggebliebenen Dissense waren nicht so groß, dass man deshalb – auch noch am Tag der Verkündung der schwarz-gelben Koalitionsergebnisse – Kampfabstimmungen mit dem Bundesvorstand hätte provozieren müssen. Die Ziele waren erreicht.

Die BDK war daher sicherlich für viele langweiliger, als man hätte erwarten können. Was mich in diesem Zusammenhang schon ein bisschen aufgeregt hat, waren sonst eigentlich sachlich agierende Vertreter des linken Flügels, die meinten, die Antragssteller hätten Angst vor der Basis gehabt. Nicht nur, dass fast alle Ziele erreicht wurden und Kompromisse auch gern gelobt werden dürfen, nein: Die Linken hatten schon immer eine selektive Wahrnehmung der Basis. Echte Basisbeschlüsse (also mit Einbindung aller Mitglieder) waren jedenfalls meist sehr viel pragmatischer in ihrer Entscheidung als mit der mittleren Funktionärsschicht besetzte Delegiertenkonferenzen. Seien es die 90% Zustimmung zu schwarz-grün in Hamburg oder die Bundesvorstandsstrukturreform, die zuletzt nur mit einer Urabstimmung modernisiert werden konnte, weil die BDKen zu reformscheu waren. Es lohnt sich also, über Möglichkeiten nach mehr direkter Beteiligung von Mitgliedern auch bei Beschlüssen der Bundespartei ernsthaft nachzudenken.

Aber zurück zur BDK: Mit Spannung erwartet wurden eigentlich nur noch der Auftritt des Saargrünen-Vorsitzenden Hubert Ulrich, der in meinen Augen (und offensichtlich auch in Augen seiner Kritiker) viel Applaus und wenig Buhrufe zu hören bekam. Ein deutliches Zeichen, dass die Delegierten im Sinne Eigenständigkeit weiter sind, als manch (Möchtegern-)Funktionär denkt. Hier die Rede samt sympathischen Jamaika-Liebesbeweis der Grünen Jugend *gg*:

Wohltuend sachlich war dann noch die Afghanistan-Debatte am Sonntag, auf der vor allem Winni Nachtweih und Tom Koenigs mit ihrer großen Erfahrung im Krisengebiet überzeugten. Da sahen dann politiktheoretische Vorträge zum Abzug nach festem Fahrplan ziemlich dürftig gegen aus. Die Versammlung war dann auch so klug, gleichlautende Anträge mehrheitlich abzulehnen und auch die Unabhängigkeit der Abgeordneten nicht in Frage zu stellen.

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Grünencamp – wer hat Lust?

Ich gehe nun seit einigen Jahren zu Barcamps. Barcamps zeichnen sich vor allem durch eine niedrigschwellige, offene und vernetzende Konferenzsituation aus, die von den Teilnehmern inhaltlich selbst gestaltet wird. Nicht zuletzt deswegen werden Barcamps auch Unkonferenzen genannt, weil solche Eigenschaften normale Konferenzen nicht auszeichnen.

Auch bei Bündnis 90/Die Grünen sind wir eher Top-Down-Konferenzen gewöhnt (von themenspezifischen Kongressen bis hin zur Bundesdelegiertenkonferenz), wenn man einmal vom Camp Netzbegrünung absieht. Natürlich haben diese nach bestimmten Regularien stattfindenden Veranstaltungen ihre Berechtigung, weil nur so demokratische Legitimation deutlich ist. Einem kreativen Prozess , der politische Visionen oder Kampagnenideen entwickelt, dienen diese Veranstaltungsformate aber überhaupt nicht.

Daher habe ich mir überlegt, ob so etwas wie ein Grünencamp nicht eine Möglichkeit wäre, mal ein bisschen Schwung in die innerparteiliche Arbeit zu bringen. In selbstgestalteteten Sessions flügel- und themenübergreifend (nicht nur Netzpolitik!) grüne Politik von morgen diskutieren, vielleicht auch mal zum Schluss kommen, dass man sich irgendwo verrannt hat, mit Bündnispartnern über gemeinsame Projekte sprechen -letztlich: sprechen, über was ihr wollt. Ein bisschen wie Politcamp, dass ich auch mitorganisiere, aber halt viel konkreter, umsetzungsbezogener und natürlich parteiisch.

Zielgruppe wären in meinem Augen neben den Parteimitgliedern natürlich auch Interessierte an bündnisgrüner Politik, Initiativen in unserem Umfeld oder einfach auch mal Leute, die ganz anders denken (letzte sollten vielleicht nicht zu dominant sein, es soll ja ein Grüncamp bleiben 😉

Was haltet Ihr von der Idee? Wenn sich mit mir ein paar Organisierinteressierte finden, würde ich eine mixxt-Seite starten.

UPDATE: Es gibt jetzt eine mixxt-Community, wo wir das weiterdiskutieren.

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Ein paar Gedanken zum geplanten IKEA in Altona

Frappant in Altona. Foto: kai (=herrner) auf Flickr

Es ist bestimmt total verrückt, aber ich versuche mal, die geplante Ansiedlung von IKEA in der Großen Bergstraße in Hamburg etwas differenzierter zu betrachten. Ich bin da ehrlich noch nicht final entschieden, möchte aber meinen derzeitigen Gedankengang einmal darlegen. Feel free to comment!

Ich bin kein Riesenfan von IKEA, habe aber natürlich wie fast jeder ein paar IKEA-Möbel herumstehen. Im Urlaub bin ich total genervt, wenn ich selbst im kleinsten sardischen Dorf IKEA-Möbel in der Ferienwohnung vorfinde. IKEA ist einfach zu allgegenwärtig. Aber eben günstig. Eben dieses IKEA will nun mitten in Altona eine Filiale bauen, die – was angeblich neu ist – das ganze Reportoire innerstädtisch anbieten will. Soll heißen: Interessierte müssen nicht mehr an den Stadtrand fahren, um bei IKEA einzukaufen, sondern haben das vermeintliche Vergnügen stadtnah.

Problematisch hieran sind zwei Dinge, die man aber meiner Meinung nach auch deutlich trennen muss. Zum einen hat sich hier seit 2006 eine hochaktive und differenzierte Kunst- und Eventszene angesiedelt, die durchaus über Hamburg hinaus Bekanntheit erlangt hat, zum anderen muss man sich natürlich die Frage stellen, wie ein Stadtteil ein solches Möbelkaufhaus verkraftet.

Zwischennutzung für Künstler: Bleibenwollen ist ein Problem

Zu den Künstlern: Der Besitzer des Hauses hat, mit Unterstützung der jetzt gescholtenen Politik und privatwirtschaftlicher Initiative eine künstlerische Zwischennutzung des Gebäudes zugelassen. Das kann man gar nicht oft genug loben. Schließlich ist es schwer in Hamburg in so zentraler Lage günstige Ateliers anzumieten. Das jetzt viele Künstler darauf bestehen, die Räume weiter zu nutzen, ist aus deren Sicht verständlich, bedroht aber in Zukunft jedes weitere Projekt dieser Art, da andere Immobilienbesitzer mit temporären Leerständen befürchten müssen, dass eine genehmigte Zwischennutzung die Immobilie zum Streitobjekt und damit unverkauf- oder unvermietbar macht. Wenn ich meine Wohnung während eines Auslandsaufenthaltes günstig untervermieten würde, fände ich es ja auch nicht so toll, wenn ich nach meiner Rückkkehr gesagt bekäme, dass ich aber nun nicht mehr reinkäme. Der Protest in der Bergstraße ist diesbezüglich also letztlich kurzsichtige und andere Kulturprojekte gefährdende Kirchturmspolitik. Da ändern auch durchaus lustige Briefe nichts dran. (Die dort erwähnte sogenannte Evokation der Angelegenheit durch den Senat gibt es übrigens aufgrund der Intervention der GAL nicht).

Das Problem könnte natürlich ggf. dadurch gelöst werden, dass die Stadt das Gebäude kauft und zum ständigen Kunsthaus umwidmet. Abgesehen von der prekären Haushaltssituation finde ich aber als Kulturliebhaber Kunst aus Ateliers mit langen Mietverträgen und staatlicher Päppelung meist wenig attraktiv. Künstler, die sich mit Verhältnissen arrangieren und es sich bequem machen, sind meist langweilig. Und die Abhängigkeit von der staatlichen Förderung des Gebäudes führt oft zu Selbstzensur und Gefälligkeitskunst für Politiker, die über die Gelder zu entscheiden haben. So jedenfalls meine Erfahrung in den bezirklichen Ausschüssen. Insofern scheint mir das keine Lösung zu sein. Man muss natürlich immer wieder Räume auftun, die zwischengenutzt werden können, aber dafür muss die Bereitschaft von Immobilienbesitzern vorhanden sein. Und da kann man dann nur auf den letzten Absatz verweisen.

IKEA oder andere gewerbliche Nutzung?

Zu IKEA oder anderweitige Nutzung: Viele werden das böse finden, aber rein rechtlich gesehen hat der Immobilienbesitzer natürlich das Recht, dort Gewerbe zu ermöglichen (letztlich sind Clubs wie das von mir sehr geschätzte Hafenklang Exil aber ja auch keine Wohlfahrtsstätten). Es gab in den letzten Jahren etliche Konzepte mit einer Mischung von kleineren Gewerbeflächen, bei denen die jeweiligen Investoren wegen fehlender Tragfähigkeit des Konzeptes wieder abgesprungen sind. Diese Kleinflächenaufteilung ist aber genau die Forderung des Wortlautes des eigentlichen Antragstextes des Bürgerbegehrens. Die weiteren im Begehren genannten Forderungen sind nur Ausschmückungen und können vom Bezirk z.T. auch gar nicht entscheiden werden. Das ist also auch keine Lösung.

Ohne Auswirkungen auf die Umgebung oder gentrifizierend?

Wenn nun IKEA zumindest rein wirtschaftlich eine der wenigen Möglichkeiten ist, so muss man natürlich die Bedenken unterschiedlichster Art ernst nehmen. Was die bei jedem umgedrehten Stein bemühte Gentrifizierung betrifft, so verstehe ich die Argumentation der Gegner nicht (vielleicht erklärt sie mir ja jemand in den Kommentaren): Einerseits wird gemutmaßt, dass der „Tempel“ gar keine wirtschaftlichen Effekte auf den Rest der Großen Bergstraße hat, weil es ein geschlossenes Konzept ist (Essen, Kleinkram, Möbel, Kinderbetreuung) – eine Kritik, die ich übrigens sehr bedenkenswert finde. Andererseits wird behauptet, die Mieten würden explodieren, weil der „Aufwertungsdruck“ so hoch sei. Was gilt denn nun? Es ist ja auch nicht zu erwarten, dass wegen Kötbullar und Billy jetzt ganz Eppendorf in die große Bergstraße zieht. Die kaufen wohl eher beim großen Bruder Habitat oder anderen Läden am Neuen Wall.

Meine offenen Fragen

Wesentlicher scheint mir die Kritik an der Größe, der architektonischer Ästhetik und vor allem der Verkehrsbelastung zu sein. Ich will definitiv auch keinen blauen Klotz in der Großen Bergstraße. Ich hätte die zunächst kolportierte Idee, ein Mini-IKEA daraus zu machen, wo man keine Möbel direkt mitnehmen kann, wesentlich sympathischer gefunden. Ich kann die Kritik, dass das womöglich zunächst nur als Leckerli zwecks „Akzeptanzmanagement“ in die Runde geworfen werden, gut verstehen. Hier stellt sich die Frage, wie weit IKEA noch entgegenkommt. Was die Belastung durch Verkehr betrifft, müssen unbedingt Lösungen gefunden werden, die zur Benutzung des ÖPNV motivieren, von Lastentaxis bishin zur Erstattung des Tickets beim Kauf und teuren Parkplätzen. Ehrlich gesagt finde ich es nicht so abweggig, dass dann viele auch mit Bus und Bahnen kommen. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass die meisten Besuche bei IKEA doch nur im Kauf von 100 Teelichtern enden. Das Kaufhaus muss zudem in die Große Bergstraße architektonisch und wirtschaftlich eingebettet sein. Das heißt, man muss als Besucher Lust bekommen, auch mal vor die Tür zu gehen, IKEA muss Teil des Stadtteils sein. Unter diesen zuletzt genannten Punkten könnte ich mir IKEA vorstellen, ohne diese nicht. Oder wie es der GAL-Bürgerschaftsabgeordnete Michael Gwosdz formulierte: „IKEA muss sich an Altona anpassen und nicht Altona an IKEA“. Den ersten Schritt werden jetzt aber wohl die Bürger selbst machen können. Sie können sich voraussichtlich in einem Bürgerbegehren zu IKEA verhalten. Es gibt übrigens auch eines für IKEA, das viel Zulauf hat. Soviel zur angeblich nicht vorhandenen Akzeptanz im Stadtteil.

Disclaimer: Ich bin als zugewählter Bürger Teil der Altonaer Bezirksfraktion der GAL, die sich noch im Meinungsbildungsprozess befindet, was eine Ansiedlung von IKEA betrifft (weniger über das ob als das wie).

Foto: Frappant in Altona. Foto: kai (=herrner) auf Flickr unter CC

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Offener Brief an meine Parteifreunde in Sachen Piraten

Liebe grüne Parteifreunde,

wir haben bei der Bundestagswahl nicht schlecht abgeschnitten. Man muss aber auch zugeben, dass das gute Ergebnis dem Frust über die große Koalition geschuldet ist und nicht nur aus eigener Kraft zustande gekommen ist. Ich würde mich daher nicht darauf ausruhen. Ich wende mich aber heute mit einem Thema an euch, was viele womöglich noch als Randerscheinung wahrnehmen: Mein Kummer gilt unseren (noch kleinen) Verlusten an die Piraten.

Der Freiheitsbegriff

Natürlich: Die Piraten bieten jetzt noch jede Menge Angriffsfläche, aber wenn sie es tatsächlich schaffen, den Freiheitsbegriff durch alle Bereiche durchzudeklinieren, sich evtl. von dem bescheuerten Namen zu verabschieden und etwas weniger nerdig wären, dann haben wir und natürlich auch die FDP ein echtes Problem. Ich wünschte mir eigentlich, dass wir eine solch mögliche Partei der Freiheit wären. Ich habe noch nie verstanden, warum wir Freiheit in allen Bereichen wollen, aber in der Wirtschaft auf einmal total regulierend sind. Das passt nicht zusammen und das meinen auch viele ideologiefreie Piraten. Die haben keine Grabenkämpfe um das bessere Linkssein hinter sich, die agieren da völlig vorbehaltslos und das macht sie interessant gerade für Jungwähler. Dabei treten sie natürlich vor allem zu Beginn noch in ziemlich große Fettnäpfchen (Interview mit der Jungen Freiheit). Aber von der Einstellung her ist mir das ehrlich gesagt ansonsten gar nicht unsympathisch. Das ist der politische Aspekt.

Kommunikation in der digitalisierten Demokratie

Was aber das noch größere Problem ist. Digital aktive Leute werden von den Piraten besser angesprochen: Sie kennen sich mit dem Netz aus, sind dank digitaler Kommunikationskanäle jederzeit ansprechbar, machen ihre Parteiarbeit total transparent (Vorstandssitzungen sind öffentliche Telefonkonferenzen, Vorstandsprotokolle sofort im Netz, Parteiprogramm als Wiki etc) und haben einen extrem hohen Mobilisierungsgrad, sind also nicht nur im Netz sichtbar sondern durch im Netz verabredete Flashmobs und ähnlichem innerhalb von Stunden organisiert auch öffentlich sichtbar.

Offene politische Kultur des „Fehlermachendürfens“

Bei der Mobilisierung hat es natürlich auch etwas mit dem Alter und der Verfügbarkeit zu tun (viele Studenten), bei der Transparenz der Parteiarbeit können wir nicht nur, wir müssen uns dringend dort eine Scheibe abschneiden. Es ist nicht mehr zeitgemäß, in Gremien Herrschaftswissen anzusammeln und geheime Strategien zu entwickeln. Das funktioniert in Zeiten von Twitter, Facebook und Wikileaks nicht mehr. Es wird über kurz oder lang sowieso alles publik. Lasst es uns also gleich offen diskutieren. Das macht uns natürlich angreifbar, aber wir müssen für eine Kultur des „Fehlermachendürfens“ streiten. Wir müssen Vorreiter sein für eine politische Kommunikation, in der man nicht gleich gerügt wird, wenn man einmal einen vielleicht nicht ganz parteikonformen Gedanken öffentlich äußert. Gerade digital aktive Menschen, die gewohnt sind, jede Information per Klick zu erreichen, sehen nicht ein, warum gerade Parteien, die eine Ort der politischen Meinungsbildung sein sollen, sich nach außen hin so monolithisch geben (obwohl wir es als Grüne ja gar nicht sind). Und sie werden unsere Offenheit honorieren.

Manche von euch werden einwenden, dass doch schon ganz viele Grüne bei Facebook und Twitter sind, Parteiversammlungen gestreamt werden und Fragen 72 Stunden vor der Wahl online beantwortet werden. Das ist auch alles ganz toll und ein guter Anfang. Nur hat man häufig schlicht den Eindruck, dass ihr die Tools der Tools wegen benutzt und nicht, dass dahinter eine Einstellung steht. Ihr benutzt Twitter und Facebook, um Wahlkampf zu machen, habt vielleicht auch erkannt, dass ihr Leute für Anträge auf Bundesdelegiertenkonferenzen organisieren könnt (womit ihr immerhin dem Mobilisierungsfaktor der Tools verstanden habt), aber habt noch nicht verstanden, dass diese Tools so erfolgreich sind, weil sie eine direkte, barrierefreie Kommunikation – in diesem Fall: mit den Wählern – ermöglichen. Und dass die Wähler auch erwarten, dass die auf diesem Kanal zurückgespielten Anliegen, Anregungen und Vorwürfe auch ein Feedback bekommen. Und noch „schlimmer“: In der Diskussion um unser politisches Programm Berücksichtigung finden.

Digitale Basisdemokratie 

Das zu stundenlangen Parteiversammlungen wandernde Mitglied wird sich nach und nach historisieren. Das kann man beklagen, auch ich finde die persönliche Diskussion Face-to-face oft besser, aber es wird schlicht die Realität sein, der man sich stellen muss und zudem kann Partizipation viel breiter und besser werden, wenn man neue Kommunikationskanäle benutzt. Wenn wir das nicht begreifen, werden wir da in einer zunehmend digitale Tools verstehenden und benutzenden Gesellschaft (um es nicht nur auf junge Leute zu begrenzen) einen schweren Stand haben. Und wir müssen das begreifen: Wir sind die Partei der Basisdemokratie.

Dieses Schreiben an euch wollte ich übrigens zunächst im internen Hamburger Forum schreiben, ich habe nach ein paar Zeilen aber schon gemerkt, dass es absurd ist, Offenheit zu fordern und das dann intern zu machen. Ich würde mich freuen, wenn ihr (und alle anderen, die Lust haben), das hier und überall kommentiert, weitertragt und uns zu einer lebendigen Partei innerhalb einer digital geprägten Partei weiterentwickelt.

Euer Lars Brücher, grünes Mitglied seit 1991

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